Diesen Monat möchte ich, aufbauend auf die im März vorgestellte Hasenleitensiedlung, zwei weitere Wohnbautypen in unmittelbarer Nähe voneinander vorstellen, die den Wandel im Wohnbau aufgrund der allmählich veränderten Bedürfnisse der Bewohner*innen deutlich machen.
Den Beginn stellt die 1912 von der „Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgesellschaft der Krankenkassen Wien und Niederösterreich“ in Auftrag gegebene Kleinwohnungsanlage in der Braunhubergasse 25-29 dar, von der Bevölkerung Simmerings auch als ‚Krankenkassa-Häuser‘ bezeichnet. Errichtet wurde diese Anlage nach Plänen des Architekten und Stadtbaumeisters Johann Rothmüller (*1. Juli 1882, †3. Oktober 1965), als dessen erstes Projekt die Mitarbeit am Kulissenbau des Film-Zweiteilers „Sodom und Gomorrha“ auf dem Areal der ehemaligen Filmstadt am Laaer Berg zu nennen wäre. [1] Zwei weitere bekannte, in Zusammenarbeit mit anderen Architekten realisierte Projekte Rothmüllers sind der 1929-1930 errichtete Goethe-Hof im 22. Wiener Gemeindebezirk sowie das „Orthopädische Krankenhaus der Stadt Wien - Gersthof“ im 18. Wiener Gemeindebezirk.
Heutige Ansicht der „Krankenkassa-Häuser“ Ecke Braunhubergasse/ Am Kanal/ Römersthalgasse.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Die Besonderheit der Anlage in der Braunhubergasse besteht darin, dass der durch vor- und zurückspringende Fassaden gekennzeichnete mäanderförmige Baublock mit drei Straßenhöfen im Grundriss der Wohnungen bereits früh den Übergang vom Typus des Bassena-Hauses zur modernen Wohnanlage darstellt. [2] Zwar befanden sich die Toiletten, wie auch bei den Bassena-Häusern der Gründerzeit [3] üblich, noch am gemeinsamen Verbindungsgang, allerdings konnten die Zimmer-Kabinett-Wohnungen bereits direkt belichtet und belüftet werden.
Detailansicht der Fassade mit Balkon und Fenstergliederung. Hier im Vergleich von 1934 und heute.
Bildnachweis: DÖW Foto 2858, https://www.doew.at/cms/images/5kmhv/tinymce/1340722874/Februar-1934-Artillerie-Einschlaege-Braunhubergasse-Wien-Simmering.png und Privatarchiv Pelikan.
Weiters soll auch auf die umfangreich gestaltete Fassade hingewiesen werden, welche im Zuge der Februarkämpfe 1934 beschädigt wurde, [4] (siehe Abbildung links) jedoch nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wieder in ihrer Ursprungsform aufgebaut wurde. Tatsächlich finden sich aber auch heute noch zahlreiche Architekturdetails, die auf die frühere reiche Ausstattung Hinweise liefern können, was auf die dankenswerterweise nur sehr vorsichtig ausgeführten Ausbesserungsarbeiten an der Fassade zurückzuführen ist, wie die aktuellen Bilder zeigen.
Links: Details der Fassadenflächengestaltung, rechts: geschoßtrennende Gesimse.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Als eine ehemalige Bewohnerin dieser Anlage muss hier Rosa Jochmann genannt werden, deren bedeutende Stellung im Kampf gegen den Austrofaschismus und Nationalsozialismus bereits in den Beiträgen von September 2023 und November 2024 Erwähnung gefunden hat.
In unmittelbarer Nachbarschaft der „Krankenkassa-Häuser“ stellt das Volkswohnhaus in der Herbortgasse 43/ Ecke Römersthalgasse einen weiteren Entwicklungsschritt im Simmeringer Wohnbau dar.
Errichtet wurde es 1929 durch die Gemeinde Wien in einjähriger Bauzeit von Architekt Heinz Rollig (*22. Mai 1893, †18. April 1978). Er studierte von 1918-1921 an der Akademie der bildenden Künste bei Friedrich Ohmann und war ab 1925 als selbständiger Architekt in Wien tätig, wo er vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg Aufträge für die Service-Stationen Esso-Standard (Tankstellen) in ganz Österreich realisierte. [5] Bekanntheit erlangte er auch durch den Ausbau des ab 1936 errichteten und 1997 abgebrannten Alpenhotels „Franz-Josef-Haus“ am Großglockner. [6]
Bei dem hier vorgestellten Objekt experimentierte Rollig mit dem Zusammenspiel von einem symmetrischen Fassadenbau mit asymmetrischen Elementen, das ihn als einen fortschrittlichen und vielfältig orientierten Architekten der Zwischenkriegszeit ins Zentrum der Betrachtung rückt. [7] So findet sich am Baukörper entlang der Römersthalgasse ein mit mittig gelegenen Loggien sowie einem Balkon gestalteter, dreistöckiger Vorsprung im Baukörper, [8] während die beiden jeweils vierstöckigen seitlichen Anbauten mit kleinen Rundbalkonen akzentuiert sind, was zu einer gewissen optisch symmetrischen Rhythmisierung beiträgt. Die Fassade der jeweiligen Bauabschnitte selbst bleibt straßenseitig einheitlich.
Fassadengliederung Römersthalgasse.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Zentraler Erkerblock mit Loggien und Rundbalkone entlang der Römersthalgasse, Details.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Durch die unterschiedlichen Arten und Formen der Fenster sowie der vorspringenden Balkone/ Loggienbereiche wirkt die Fassade nicht starr und blockhaft, sondern individuell und lebendig. [9]
Straßenansicht der Fassade Herbortgasse.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Etwas anders ist hingegen die asymmetrische Fassadengestaltung entlang der Herbortgasse zu sehen, die nicht mit jener der Gliederung in der Römersthalgasse in Verbindung steht. So finden sich hier über dem vorgezogenen Portalbereich mit Klinkersteinelementen zwei Halbrund-Balkone, wohingegen der Erker-Loggienblock als Gegengewicht zum Portal eine dezentrale Rolle einnimmt und, von beidseitigen Rundfenstern flankiert, auf die Fassade zur gegenüberliegenden Straßenseite überleitet.
Fenster-/ Balkonvariationen in der Herbortgasse, Detail.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Vor allem die Rundfenster wirken in der Fassadengestaltung als Einschnitt, sie trennen optisch die einzelnen Bauteile voneinander und setzen sie doch gleichzeitig in Verbindung. Interessant gelöst ist zudem der Portalbereich mit den darüberliegenden Halbrund-Balkonen. Dadurch, dass in dieser Fassadenfront zu jener der Römersthalgasse ein Vorsprung gestaltet ist, wodurch sich eine kleine Freifläche ergibt, wurde dieser Bereich in den oberen Stockwerken durch eingesetzte Balkone gelöst, die eine harte Gebäudekante sanft abstufen und abrunden. [10] (siehe Straßenansicht Herbortgasse)
Portalbereich Herbortgasse 43.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Als dominantes Detail und Kontrast zu dem Balkon/ Loggienblock findet sich der besonders akzentuierte Eingangsbereich der Wohnhausanlage. [11] Markant gestaltet durch eine zweifärbige Klinker-Rahmung mit stark ausgeprägtem Gesims, zieht er den Blick der Betrachter*innen auf sich.
Bereits zur Zeit ihrer Errichtung als ‚moderne‘ Wohnanlage konzipiert, waren die hellen, luftigen Wohnungen dieses Baus mit Sanitäranlagen und Balkonen (auch hofseitig) ausgestattet und bildeten damit einen krassen Gegensatz zu den früheren Bassena-Häusern. Heute umfasst die Anlage 50 statt ursprünglich 55 Wohnungen [12] und erstrahlt nach einer umfassenden Renovierung in neuem Glanz.
Beitragersteller: Thomas Pelikan
[1] https://www.architektenlexikon.at/de/521.htm.
[2] Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band III/1, Wien 2010, S. 297.
[3] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Bassena.
[5] https://www.architektenlexikon.at/de/515.htm.
[6] https://www.wienerwohnen.at/hof/821/821.html.
[7] https://www.architektenlexikon.at/de/515.htm.
[8] https://www.wienerwohnen.at/hof/821/Herbortgasse-43.html.
[9] https://www.wienerwohnen.at/hof/821/Herbortgasse-43.htm
[10] https://www.wienerwohnen.at/hof/821/821.html.
[11] https://www.wienerwohnen.at/hof/821/Herbortgasse-43.html.
[12] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Wohnhausanlage_Herbortgasse_43.
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